Es ist wieder einmal so weit. Ich sitze beim Augenmacher, nachdem ich erst ein ganzes Semester nicht die Zeit gefunden habe, und dann die Krankenkasse gezickt hat. Kostenvoranschlag. Sehr clever, wenn ich schon ein halbes Jahr überfällig bin. Die Tatsache, dass ich ihnen damit schon quasi Geld gespart habe, reicht wohl nicht, um mir gleich ein Auge zu genehmigen. Und warum Kostenvoranschlag? Es gibt keinen anderen in der Gegend. Das heißt, die Kosten, die DIE sparen würden, dürften wir in Sprit oder Bahn investieren. Na, herzlichen Dank.

Aber jetzt sitze ich ja hier. Zuerst kommt der Gutaussehende rein. Ich wäre theoretisch als Nächste an der Reihe, aber ich weiß ja, dass sich keiner an mich ran traut, außer dem einen. Das kommt davon, wenn man sich weigert, die Augenhöhle operieren zu lassen. Ich bin ein schwieriger Fall. Schade, ich hätte gern mal dem Hübschen gegenüber gesessen. Auch er wird langsam grau, dabei kann der doch noch gar nicht so alt sein, oder? Ist er schon so lange dabei?

Der Andere kommt und holt mich. Der Mann, den ich bis vor einigen Jahren länger gesehen habe als meinen Vater, und dessen Namen ich trotzdem nicht kenne. Wir kennen uns 20 Jahre, er ist mir so vertraut und trotzdem hab ich keine Ahnung, wie er heißt. Irgendwie peinlich. Sollte ich ihn mal fragen? Aber das kommt sicher nicht gut.

 

Es folgt das Übliche. Er rückt mir recht nah auf die Pelle. Ist mir seit zwei Jahrzehnten unangenehm, aber es muss sein. Er muss meine Augenhöhle sehen können, muss das andere Auge betrachten, um aus den Glasaugenrohlingen einen passenden auszusuchen. Und dann heißt es warten. Er erhitzt das Glas, formt es, lässt es abkühlen. Halbe oder Dreiviertelstunde. Dann ruft er mich zu sich. Das Auge ist fertig und ich muss schauen, ob es sitzt. Ich betrachte es. „Aber da ist doch ein Riss drin.“ Ein deutlich sichtbarer Streifen mitten in der Iris des Glasauges. Er nimmt es, betrachtet es und schüttelt den Kopf. Das sei keiner. Wieder nehme ich das Auge. Fahre mit dem Fingernagel über den Riss, bleibe hängen. „Sind Sie sicher, dass das keiner ist?“ Er nimmt es wieder, titscht es leicht auf den Tisch. Es würde anders klingen, wenn das wirklich ein Riss wäre.

Schließlich mache ich das Auge rein, eher widerwillig. Irgendwie fühlt es sich nicht gut an. Nicht richtig. So etwas kann man nie erklären, nicht jemandem, der kein Glasauge hat. Es drückt nicht an den richtigen Stellen, und obwohl man weiß, dass es Schwachsinn ist, glaubt man, dass es gleich rausfällt. Dabei fühlt es sich in Wirklichkeit viel schlimmer an, wenn ein Auge wirklich drauf und dran ist zu fallen. „Ich weiß nicht. Es sitzt noch nicht richtig“, sage ich also schließlich und nehme es raus. Er nickt und macht sich wieder dran.

 

Es dauert, also gehe ich lieber erst einmal ins Wartezimmer, um mit meiner Mum zu zocken. Aber alles, was mein Kopf sagt, ist ‚Da ist ein Riss im Auge‘. Das hatte ich noch nie. Noch nie hat er mir so ein Auge abgeliefert. Aber er sagt ja, das wäre kein Riss. Soll ich ihm vertrauen?

Nach einer Weile gehe ich wieder zurück. Ich weiß, dass er noch nicht fertig sein kann, will aber nicht, dass er mich suchen muss. Aber wider Erwarten winkt er mich gleich zu sich und nimmt den Karton mit den Rohlingen. Das Auge ist kaputt gegangen. Also hatte ich Recht und es war doch ein Riss.

 

Etwa eine Dreiviertelstunde später ist das nächste Auge fertig. Es sitzt auch nicht perfekt, aber es ist akzeptabel. Gut sitzt eh nie eines, daran bin ich gewohnt. Wieder so ein Preis, den man dafür zahlen muss, sich nicht operieren zu lassen. Jetzt wäre es eh zu spät, und selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht mehr ändern. Ausgewachsen.

 

Also nehme ich es. Auf geht es, erst in die Stadt, dann in die Uni. Ganze 9 Stunden habe ich es drin, länger als für mich normal, damit sich die Augenhöhle daran gewöhnt. Zuhause nehme ich es dann raus und betrachte es. Mir fällt eine kleine Linie am Rand der Iris auf. Man sieht sie nur, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel drauf fällt. Die Linie geht weiter, über das ganze Auge. Ich fahre mit dem Fingernagel drüber und an einer Stelle bleibt der Nagel hängen. Ein Riss. …Was mach ich nun?